nur ein Augenblick.. vor unserer Haustür |
Wieder einmal ist eins herum gegangen im Flug. Es waren drei Kerzen an und es waren alle 3 Kinder hier. Sie fliegen ein, nehmen ihren "Stall" in Beschlag, und fliegen dann wieder aus, wie die Zugvögel bei ihrer Zwischenlandung. Es ist nicht gerade ruhig, es stürmen alle Erlebnisse auf uns ein, manches können wir uns kaum vorstellen, anderes wieder sehr gut. Es klingeln die Telefone, Facebook, SMS, die ganze Maschinerie läuft auf Hochtouren. Kaum "postet" einer was, wissen es alle Freunde, und ab geht die Post, abends feiern, oder Klassentreffen auf dem Weihnachtsmarkt usw. Es ist eine unglaubliche Mobilität - und Hektik.
Oder werde ich "alt" ? War das heute ein "Alt Tag" ? Mir fällt eine email ein, die mir ein Freund geschickt hat mit einem Artikel aus der FAZ. Ich habe sie in den Ordner "später" verschoben, weil mir der Artikel zu kompliziert war, auf den ersten Blick. Aber jetzt nehme ich mir die Zeit, weil es einen Freund nachdenklich machte.
„Man darf den Begriff ,Alltag‘ nicht in sich einlassen. Sobald man denkt, heute ist Alltag, hat man mit dem Angebot des Moments keinen guten Umgang. (Peter Sloterdijk)
... Wir sind nicht mehr bereit, uns auf Momente einzulassen, und wir haben es verlernt, sie zu erleben. Wir sind so gut darin, unseren Alltag zu meistern, dass wir die Angebote der Augenblicke missachten.
Begonnen hat es wahrscheinlich mit dem Einzug des Telefons in den Alltag. Telefongespräche beginnen einfach, sie kündigen sich nicht an, und sie zerstören, selbst, wenn sie unbeantwortet bleiben, seit Anbeginn Augenblicke; sie reißen aus Gesprächen mit anderen und aus Gedanken mit sich selbst; sie passieren einfach, rücksichtslos und fordernd. Die zur absurden Kulturübung gewordene Frage, ob man mit einem Anruf störe, versteckt sich zwar im Kostüm der höflichen Antizipation; doch in ihr kann kaum eine Achtung des Augenblicks stecken. Die Höflichkeit bleibt allein Aufgabe des Angerufenen: Nein, natürlich störe der Anrufer nicht, sagt man, weil man denkt: Jetzt ist es doch eh zu spät.
Mittlerweile begleiten uns die Telefone überall hin. Sie klingeln, blinken und vibrieren unentwegt. Sie lassen uns nicht mehr in Ruhe. Erstaunlicherweise ist es aber nicht mehr der Anrufer, der uns stört. Nach Jahrzehnten des gemeinsamen Leidens wird es inzwischen durchaus akzeptiert, einen Anrufer zu ignorieren, weil die Mailbox einspringt oder das Registrieren des Anrufversuchs oft schon reicht. Auch das Ausweichen in die Textnachricht ist heute bequem.
Aber den Augenblick rettet das nicht – im Gegenteil: Die modernen Telefone zerstören ihn noch ganz anders. Inzwischen sind wir es selbst, die die Eigenrechte der Situation einfach übergehen, ohne auch nur einen Gedanken an die Potentiale des Moments zu mobilisieren. Mitdenken ist kaum mehr notwendig, weil alles schon geplant wurde. Miterleben ist nur noch schwer möglich, weil wir, an der Planung orientiert, in Gedanken schon längst der aktuellen Situation enteilt sind. Welches ist das optimale Ziel, und wie verläuft die perfekte Route dorthin? Wer auf diese Fragen nicht mindestens eine konkrete Antwort hat, bewegt sich kaum noch. Dinge finden nicht statt, wenn sie sich nicht vorher bequem mit dem Telefon planen lassen. „Auf gut Glück!“ ist ironischerweise nur noch ein Button auf der Google-Suchseite, den niemand benutzt. Wir fahren nicht mehr in fremde Städte, ohne sie uns vorher im Luftbild anzusehen. Wenn wir eine Adresse kennen, sehen wir uns schon am heimischen Computer an, wie es dort aussieht. Und wenn wir mit dem Bus fahren, wissen wir schon vor der Abfahrt, wann er wieder zurückfährt. Wollen wir uns überraschen lassen, dann gehen wir „shoppen“. Überall sonst bedeuten Überraschungen Enttäuschungen. Weil die Realität, wenn sie von der Planung abweicht, nur Probleme im Ablauf des Alltags verursacht, fürchten wir sie. Die Perfektion eines mit dem Telefon zusammengeklickten Plans kann durch die Wirklichkeit nicht mehr übertroffen werden. Es ist alles ausgereizt.
Wir vertrauen der Idee, dass wir fürs Gelingen des Alltags nur alles wissen müssen, sammeln dieses Wissen im Vorfeld und geben unsere Sensibilität für Augenblicke verloren. Wozu sollten wir sie noch brauchen? Unsere Telefone und das Internetweltwissen geben den Rahmen der Möglichkeiten vor, die Aktualität des Augenblicks spielt für die Technologie keine Rolle, für uns also auch nicht. Die Fähigkeit zur Improvisation verkümmert, während Google Maps in der Hosentasche vibriert, um uns zu sagen, dass wir demnächst So wurden alle Alltagsprobleme Planungsprobleme, und sie lassen sich durch Technologieeinsatz lösen.
Dieser Glaube beginnt schon, wenn E-Mails geschrieben und gelesen werden. Entgegen der gängigen Auffassung ist das Lesen einer E-Mail viel weniger Kommunikation mit Menschen als Konsultierung einer Maschine. Während wir eine E-Mail lesen, müssen wir nicht darüber nachdenken, wie wir die Situation erfolgreich meistern. Der Autor der Mail ist nicht anwesend. Es sind keine Höflichkeit, keine Dankbarkeit, kein Taktgefühl und kein Humor notwendig. Die Maschine wird dafür immer unempfänglich bleiben. Im Umgang mit ihr besteht nie das Risiko des Scheiterns einer Situation. Es besteht aber auch nicht die Chance, das irgendetwas anderes, noch Undenkbares, vielleicht Konstruktives geschieht.
Und dann passiert er trotz allem, der Augenblick. Doch statt ihn einfach zu erleben, zücken wir unser Telefon und versuchen ihn zu dokumentieren. Es ist noch nicht lange her, da machte man sich noch über japanische Reisegruppen lustig. Sie ziehen noch immer durch Europa, um nichts anderes zu tun, als zu fotografieren. Sie erleben ihre Reisen gar nicht, sondern lassen sie sich später von ihrer Technologie erzählen. So handhabt man es heute überall.
Für viel Geld kauft man sich ein Konzertticket seiner Lieblingsband, um dann vor Ort eine möglichst gute Dokumentation des eigenen Dabeiseins anzufertigen. In jeder in die Höhe gereckten Hand steckt heute ein Telefon. Die Augen werden nicht mehr auf die Bühnen gerichtet, sondern auf die Displays. Man hat die falsche Angst, den richtigen Augenblick zu verpassen.
Das Besondere am Augenblick ist seine Flüchtigkeit, und die lässt sich nicht festhalten. Wer sein Erleben eintauscht gegen das Anfertigen einer Erzählung, verpasst sie. Erleben ist mehr als nur dabei sein. Es erfordert Bewusstsein. Man muss sich entscheiden, für eine eigene Erinnerung oder eine fremde Erzählung.
Das Facebook-Zeitalter macht es schwer, diese Entscheidung überhaupt noch als solche zu erkennen. Es gilt als viel zu selbstverständlich, Augenblicke zu dokumentieren und in einen „Life-Stream“ einzuspeisen. Wir möchten unseren Liebsten mitteilen, wo wir sind und was wir tun. Wir möchten sie wissen lassen, dass alles in Ordnung ist und dass wir Spaß haben. Für diese Mitteilungen suchen wir uns gerade die schönen Momente aus und verpassen sie dadurch.
Facebook hat darauf schon reagiert. Mit dem neuen Service „Timeline“ soll der Verlust des Augenblicks kompensiert werden. Wenn wir unser Leben nur fleißig dokumentieren, werden sie die Erzählung nachliefern. Niemals wieder soll ein Augenblick verlorengehen – das ist die verheißungsvolle und trügerische Devise aller Beteiligten. Dreißig Stunden Videomaterial werden heute pro Minute auf Youtube geladen, 300 000 Statusmeldungen werden pro Minute auf Facebook geschrieben und nur ein paar weniger Tweets. Das zeugt von keinem guten Umgang mit dem Angebot des Moments. Vieles von dem, was wir heute tun, beruht auf den Potentialen der modernen Technologien. Doch es geht nicht nur darum, was alles sein kann, sondern auch darum, was ist.
St. Schulz, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.11
Ich weiß, dass die Zeit vor der Reise eine Zeit des Organisierens und Planens ist. Sicherlich nicht im gesunden Lot und Ausgleich. Aber ich habe eine Ahnung davon, dass die ganze Kommunikation sich drastisch reduziert, wenn wir erst mal unterwegs sind. Ich hoffe, mich dann mehr auf den Augenblick einlassen zu können. Ohne den übermäßig großen Kopf mit allen "Ersatzteilen" und Planungen mit mir herumzutragen. Ob ich mein Leben an Bord "dokumentieren" werde, und weiterhin "blogge", kann ich nicht sagen. Ich weiß nur eins: es wird Zeit, von der (Winter-)Planung ins Erleben zu wechseln.
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